"Crash-Faktor" Zins
30.10.2017 | Prof. Dr. Thorsten Polleit
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Quelle: Thomson Financial; eigene Berechnungen
Mit Blick auf die allerorten sehr hohen Schuldenlasten drängt sich der Eindruck auf, dass die Zinsen gar nicht mehr nennenswert steigen können, ohne die Volkswirtschaften in große Bedrängnis zu bringen, ohne Produktion und Beschäftigung zu schmälern. Doch warum stellen dann die Zentralbanken überhaupt in Aussicht, die Zinsen (weiter) anheben zu wollen? Die Fed hat, wie bereits erwähnt, einen Zinsanhebungszyklus eingeleitet. Und auch die Europäische Zentralbank (EZB) scheint nun ihren Fuß etwas vom geldpolitischen Gaspedal nehmen zu wollen. Was also ist der Grund für den Kurswechsel?
Schuldenquote und Zins
Es gibt eine einfache Formel, mit der sich der Zusammenhang zwischen Zins, Wachstum und Verschuldungsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft darstellen lässt. Die Schuldenquote (also Schulden dividiert durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP)), sq, erklärt sich wie folgt:
wobei pd = Primärdefizitquote (d. h. laufende Ausgaben minus Einnahmen ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen, und dieser Betrag wird geteilt durch das BIP), i = Zins, g = Wirtschaftswachstum und t steht für das betreffende Jahr. Man erkennt: Wenn der Zins höher als das Wachstum ist (wenn also gilt: i > g), dann steigt die Schuldenquote im Zeitablauf an (soweit alle anderen Größen unverändert bleiben). Genau dieser Effekt wurde von den Geldpolitiken in den letzten Jahren "bekämpft":
Die Zentralbanken haben den Nominalzins unter die Wachstumsrate der Volkswirtschaften gedrückt (es gilt derzeit: i < g), und dadurch wurde der Anstieg der Schuldenquote gebremst (in vielen Ländern jedoch nicht reduziert, weil die Neuverschuldung gestiegen ist). Würde der Zins steigen, so würde der Druck auf die Haushalte zu sparen zunehmen, beziehungsweise, wenn der Druck erfolglos bleibt, würde die Schuldenquote (rasch) wieder ansteigen. Damit wird deutlich, wie attraktiv für Regierungen die Politik der niedrigen Zinsen ist, um die Politik des Verschuldens möglichst lange fortzuführen.
Ein dauerhaft extrem niedriger Zins verursacht Probleme eigener Art. Der Bankensektor gerät in Ertrags- und Gewinnnöte. Zudem gibt es Protest in der Bevölkerung breit angesichts "unnatürlich" niedriger Zinsen und der Politiken, die sie herbeiführen (wie zum Beispiel die Anleihekäufe der Zentralbanken). Vor allem aber müssen die Zentralbanken die Zinssteigerungserwartungen wach halten. Denn sollte sich die Erwartung durchsetzen, dass der Zins dauerhaft null (oder in realer Rechnung negativ) sein wird, kehren die Anleger den Kreditmärkten den Rücken, und das Schuldgeldsystem kommt ins Schlingern.
Wenn die Anleger jedoch erwarten (können), dass die Zinsen früher oder später wieder steigen, bleiben viele von ihnen im Kreditmarkt investiert, überdauern auch eine (als vorrübergehend eingestufte) Phase extrem niedriger Zinsen. Um die Zinssteigerungen wach zu halten, bedarf es allerdings nicht nur der Worte, sondern es verlangt hier und da auch Taten. Die Politik der Zinsanhebungen wird daher, wenn überhaupt, nur sehr langsam vollzogen, und sie dürfte auch in ihrem Ausmaß begrenzt bleiben - eine Rückkehr zu normalen Zinsen, wie sie vor Ausbruch der Krise 2008/2009 beobachtbar waren, ist aus unserer Sicht unwahrscheinlich.
Euro-Außenwert unter Druck
Während die US-Zentralbank ihre Leitzinsen bereits mehrfach angehoben hat, haben die EZB und die Bank von Japan die Kreditkosten noch nicht geändert. Ein Blick auf die Wechselkursentwicklungen ist daher lohnend. Seit Anfang 2011 ist der Zinsvorteil für Anlagen in US-Dollar (gemessen anhand der Renditen für 2-jährige Staatsschuldpapiere) mehr oder stetig gestiegen. Wie im Lehrbuch hat der Außenwert des Greenback dabei zugelegt: Höhere US-Zinsen locken Anlagegeld in den US-Dollar, und der US-Dollar-Außenwert steigt. Zwar ist nicht nur der Zinsunterschied von Bedeutung für den Wechselkurs. Jedoch spielt er eine wichtige Rolle.
Umso auffälliger ist die Aufwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar, die seit Anfang 2017 zu beobachten ist: Der Euro ist von 1,05 gegenüber dem US-Dollar in der Spitze bis auf 1,20 gestiegen. Allerdings hat sich in dieser Phase der Zinsunterschied zugunsten von US-Dollar-Anlagen nicht verkleinert - was eine Euro-Aufwertung unterstützen würde -, sondern das Gegenteil ist geschehen: Der Zinsvorteil für US-Dollar-Anlagen hat sich weiter erhöht. Was mag der Grund sein? Es könnte sein, dass die Investorenschaft zunehmende Sorgen verspürt mit Blick auf die US-Wirtschafts- und -Außenpolitik. Der US-Dollar wird gemieden, trotz des Zinsvorteils gegenüber anderen Währungen.