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Interview mit Jakub Bożydar Wiśniewski: Philosophie und (Un)gesunder Menschenverstand

10.10.2022  |  Claudio Grass
In der heutigen Welt, die vom Ephemeren, Oberflächlichen und Belanglosen beherrscht wird, kann es für einen rationalen, unvoreingenommenen Beobachter mitunter schwierig sein, die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und philosophischen Geschehnisse zu verstehen.

Es ist dieser letzte Aspekt, der in den Mainstream-Medien, in der öffentlichen Bildung und in so ziemlich allen Debatten und Meinungsverschiedenheiten, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen, am wenigsten "Sauerstoff" erhält. Vielleicht ist das Fach Philosophie selbst, akademisch gesprochen, den meisten Bürgern zu "fremd" und einschüchternd geworden, oder vielleicht ist die Absicht, Probleme anzugehen, die größer sind als wir selbst oder das "Hier und Jetzt", ganz nach unten auf unserer Prioritätenliste gerutscht.

Beide Erklärungen erscheinen plausibel, wenn man den aktuellen Stand der öffentlichen Bildung und des öffentlichen Diskurses bedenkt, sowie die Tatsache, dass die Medien, ob sozial oder nicht, die Bürger davon überzeugt haben, dass kurzfristige Ziele, Bosheit und Gewinnstreben legitime Mittel zu jedem Zweck sind.

Wie dem auch sei, es bleibt die Tatsache, dass eines der größten Probleme unserer Zeit darin besteht, dass wir als Gesellschaft und als wählende und steuerzahlende Bevölkerung nicht in der Lage sind, die großen Fragen unserer Zeit in einem größeren Zusammenhang als dem zu betrachten, der uns unmittelbar und jetzt betrifft. Letztlich ist dies der Grund, warum so viele Menschen entgegen ihrer eigenen Interessen handeln, argumentieren, wählen und reagieren.

Interessanterweise gibt es eine Lösung für dieses Dilemma, und zwar schon seit geraumer Zeit: die Reihe von Werkzeugen, die die Philosophie zu bieten hat. Natürlich gibt es heutzutage wahrscheinlich nur noch eine Handvoll Menschen, die das Wort selbst definieren können ("die Liebe zur Weisheit") und noch weniger, die einen praktischen Nutzen in der Erforschung dieses Bereichs sehen. Das Debattieren von oder gar Nachdenken über "größere Zusammenhänge" kann wie eine nebensächliche Angelegenheit erscheinen, wenn ein Krieg im Gange ist, wenn es eine weltweite Rezession gibt oder wenn es praktische, greifbare Probleme zu lösen gilt, wie Essen auf den Tisch zu bringen.

Doch wie Perikles (oder wer auch immer das Originalzitat verfasst hat) zumindest paraphrasierend sagen würde: "Nur weil du dich nicht für die größeren Fragen interessierst, heißt das nicht, dass sie sich nicht für dich interessieren."

Mit diesem Verständnis für die Bedeutung der Philosophie und dieser "größeren Zusammenhänge" wandte ich mich an Jakub Bożydar Wiśniewski, Assistenzprofessor an der Fakultät für Recht, Verwaltung und Wirtschaft der Universität Breslau, Fellow des Mises-Instituts und Mitglied des Kuratoriums des Ludwig von Mises-Instituts Polen. Jakub besitzt einen MA in Philosophie von der Universität Cambridge und einen PhD in politischer Volkswirtschaftslehre vom King's College London. Er hat das seltene Talent, vage und scheinbar unverständliche Themen kurz und bündig zu erklären, und versteht es, zu verdeutlichen, warum diese Ideen für jeden und überall wichtig sind.


Claudio Grass: So einfach und praktisch wie möglich ausgedrückt, was ist der Nutzen der Philosophie in der heutigen Zeit?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Der Nutzen der Philosophie besteht darin, die Realität so zu sehen, wie sie ist, insbesondere auf der grundlegendsten Ebene. In der heutigen Zeit bedeutet dies in erster Linie, die endlosen Schichten der Sophistik abzuschälen, die von den ideologischen Torwächtern der herrschenden Mächte geschaffen wurden. Die Bedeutung dieser Aufgabe kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn ein Leben frei von solchen Sophismen ist eine notwendige Bedingung für die Bildung von Tugenden und damit für das Streben nach existenzieller Vollkommenheit.


Claudio Grass: In den meisten westlichen Ländern gehört Philosophie, zumindest in nennenswerter Tiefe gelehrt, nicht zum Kernlehrplan der öffentlichen Schulen. Und selbst wenn es doch der Fall ist, werden grundlegende Ideen wie das Konzept des Naturrechtes ausgeklammert. Welche Lücken sehen Sie in dieser Hinsicht in der öffentlichen Bildung und was könnte sich Ihrer Meinung nach ändern, wenn sie geschlossen würden?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Da das Naturrecht im Grunde eine Reihe von logisch ableitbaren Sätzen ist, wäre ein Kurs über formale und philosophische Logik eine äußerst wünschenswerte Ergänzung des Lehrplans jeder öffentlichen Schule, selbst wenn er nur als Teil eines anderen Fachs, wie z. B. Mathematik, untergebracht wäre. Es wäre zudem äußerst ratsam, klassische Texte aus der Tradition des Naturrechts (Werke von Aristoteles, Cicero, Aquin usw.) in die Lehrpläne der Sprachfächer aufzunehmen.

Durch derartige Ergänzungen würden die Schüler mit der Vorstellung einer natürlichen Ordnung mit unveränderlichen Grundsätzen vertraut gemacht, die durch keine politische Handlung oder Laune außer Kraft gesetzt werden können. Dies wiederum könnte sie weitaus weniger anfällig für politischen Populismus machen und das Potenzial der verantwortungsvoll genutzten individuellen Freiheit weitaus mehr schätzen lassen.


Claudio Grass: Könnten Sie uns eine für Laien verständliche Zusammenfassung der Kernargumente und Ideen geben, die das Naturrecht vom positiven Recht unterscheiden?

Jakub Bożydar Wiśniewski: Das Naturrecht ist eine Struktur von normativen Prinzipien, die sich aus einer sorgfältigen introspektiven und deduktiven Untersuchung der menschlichen Natur und aller ihr innewohnenden Merkmale ableiten lassen. Als solche haben sie universelle Gültigkeit und bilden einen unverzichtbaren Rahmen für ein friedliches und produktives soziales Miteinander unter allen möglichen Umständen.

Das positive Recht hingegen beruht letztlich auf der Vorstellung, dass sich die Normen der sozialen Ordnung aus dem Willen desjenigen ergeben, der das Gewaltmonopol in einem bestimmten Gebiet innehat.

Wie man unschwer erkennen kann, reduziert die letztgenannte Sichtweise die Rechtsgrundsätze auf Rechtfertigungen und Rationalisierungen des auferlegten institutionellen Zwangs, was unweigerlich zu einer Abstumpfung des moralischen Empfindens der Gesellschaft führt. Sie geht zudem einher mit einer sich selbst verstärkenden Spirale immer größerer Eingriffe in die Sphäre der individuellen Freiheit, die entweder nicht als solche erkannt oder als mit dem "Geist des Gesetzes" vereinbar erklärt werden.

Soweit also das positive Recht vom Naturrecht abweicht und den Schutz des Privateigentums durch Enteignung und den Schutz der körperlichen Unversehrtheit durch Bevormundung ersetzt, wird es zur institutionalisierten Rechtlosigkeit.

Im kommenden zweiten Teil konzentrieren wir uns auf die Risiken des Vergessens der Aufklärungslehren, auf die Gefahren der Verschmelzung von Volkswirtschaft und Ethik und darauf, was aus philosophischer Sicht getan werden kann, um einige der größten Probleme unserer Zeit zu lösen.



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