Kann 2016 das Undenkbare eintreten?
16.01.2016 | Clif Droke
Die wichtigste Frage, die sich Investoren jetzt stellen müssen, ist nicht, ob die lange Hausse, die 2009 ihren Anfang nahm, nun vorüber ist, sondern ob die anhaltende Schwäche an den Aktienmärkten 2016 dazu führen wird, dass das Undenkbare eintritt - eine Rezession. Die meisten Mainstream-Ökonomen sehen das de facto als unmöglich an. Diese Meinung ist so verbreitet, dass die Möglichkeit einer Wirtschaftsflaute praktisch gar nicht mehr diskutiert wird. Die meisten Wirtschaftsdaten der USA sind zugegebenermaßen nach wie vor gut, doch die beharrliche Schwäche unter der Oberfläche der Aktienmärkte in den letzten Monaten verlangt, dass die Thematik noch einmal geprüft wird.
Charles Dows Auffassung von den Aktienmärkten schließt die Annahme mit ein, dass der primäre Trend des Marktes ein Vorbote der allgemeinen Wirtschaftslage in den Vereinigten Staaten ist. Dow vertrat die Ansicht, dass sich Schwierigkeiten in der gewerblichen Wirtschaft bereits sechs bis neun Monate zuvor durch ein stetiges Abfallen der wichtigsten Indices ankündigen. In einigen Fällen konnte die Wirtschaft einer Baisse an den Aktienmärkten zwar widerstehen, ohne in eine Rezession zu schlittern, doch das ist eher die Ausnahme denn die Regel.
Die Turbulenzen an den Aktienmärkten lassen sich hauptsächlich auf die niedrigen Rohstoffpreise und besonders auf den Ölpreis zurückführen. Die Schwäche im Rohstoffsektor ist eine Folge der verminderten industriellen Nachfrage in Asien und Europa. Die führenden Industriestaaten leiden noch immer unter der fehlgeleiteten straffen Geldpolitik und dem Sparkurs, den die Zentralbanken und Regierungen in den letzten Jahren verfolgten. Wie erwartet rächen sich diese Maßnahmen jetzt. Wenn unsere eigenen Erfahrungen aus dem Jahr 2008 einen Anhaltspunkt liefern, wird es wahrscheinlich noch länger als ein halbes Jahr dauern, bis die Wirtschaftsimpulse der Chinesischen Volksbank und der EZB einen messbaren Effekt erzielen - und das auch nur, wenn sich beide Zentralbanken weiterhin einer extrem lockeren Goldpolitik verschreiben.
Die größere Frage lautet also, ob die US-Wirtschaft dynamisch genug ist, um dem Einfluss der globalen Konjukturabschwächung zu widerstehen. Aktieninvestoren bekommen die Folgen der Abkühlung bereits deutlich zu spüren. Das sollte den Ökonomen als Warnung dienen, dass ein Rückgang der Konsumausgaben in diesem Jahr eine reale Möglichkeit darstellt. Allerdings unterschätzen die meisten Wirtschaftswissenschaftler Dows Theorie vom Trend an den Aktienmärkten als bedeutenden Indikator. Ein wirtschaftlicher Abschwung in diesem Jahr käme für sie daher völlig überraschend. Dazu kommt noch, dass die Mehrzahl der Wirtschaftsstatistiken, auf die sich die meisten Ökonomen für ihre Vorhersagen beziehen, nachlaufende Indikatoren sind, d. h. ihre Werte zeigen erst dann eine Schwächung der Binnenwirtschaft an, wenn es bereits zu spät ist, um Präventivmaßnahmen zu ergreifen.
Um einschätzen zu können, wie es um die Situation der amerikanischen Konsumenten bestellt ist, sollten die Aktienkurse der führenden Unternehmen in den Bereichen Einzelhandel, zyklische Konsumgüter, Dienstleistungen und Transport als wichtigste "Statistik" zu Rate gezogen werden. Beispiele wären u. a. FedEx (FDX), United Parcel Service (UPS), Amazon (AMZN), WalMart (WMT) und Starbucks (SBUX). Diese und andere Unternehmen werden im New Economy Index (NEI) zusammengefasst, den ich 2007 als Maßzahl für die Schwäche oder Stärke der verbraucherorientierten Wirtschaftszweige der USA entwickelt habe.
Erstaunlicherweise konnte sich der NEI monatelang über seiner mittelfristigen, aufwärts führenden Trendlinie halten, obwohl sich die Situation der Weltwirtschaft zusehends verschlechterte. Dies lässt sich sowohl der zunehmenden Bereitschaft der Konsumenten, Güter des gehobenen Bedarfs zu erwerben, als auch ihrem unbeschwerten Desinteresse an den möglichen Auswirken einer globalen Rezession auf die inländische Wirtschaft zuschreiben.
Mittlerweile weist jedoch auch der NEI Zeichen von Schwäche auf und das Ende seines mittelfristigen Aufwärtstrends steht möglicherweise kurz bevor. Wenn das geschieht, wird es das erste Anzeichen für einen beginnenden Vertrauensverlust der US-Konsumenten seit mehreren Jahren sein. Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass es für die Einschätzung des Verbrauchervertrauens nur von Bedeutung ist, wie viel Geld sie ausgeben, nicht welche Ansichten zur Wirtschaftslage sie gegenüber den Meinungsforschern äußern.
Hinter dieser Schwäche steckt ein Rückgang der Rohstoffpreise in Dollar, der die deflationären Tendenzen widerspiegelt, die in verschiedenen europäischen und asiatischen Staaten noch immer spürbar sind. Für die USA besteht zwar keine ernste Deflationsgefahr mehr, doch die Auswirkungen der schwachen Weltwirtschaft beginnen, die Unternehmensgewinne aufzuzehren. Das ist einer der Gründe für die interne Kraftlosigkeit an der NYSE in den letzten Monaten. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in anderen Ländern wäre damit ein entscheidender Vorbote für einen erneuten Aufschwung an den Aktienmärkten.
Zu diesem Zweck beschloss die Europäische Zentralbank vor einem Jahr die erste Runde der quantitativen Lockerungen (QE), in deren Rahmen sie jeden Monat Staatsanleihen in Höhe von 60 Milliarden Euro aufkauft. Das europäische QE-Programm soll bis September 2016 laufen; etwaige Verlängerungen hängen von den Erfordernissen der Wirtschaftslage in der Eurozone ab. Ziel dieser monetären Impulse seitens der EZB ist die Umkehrung des deflationären Trends, den sie durch eine gewisse Inflation zu ersetzen hofft.
In der Märzausgabe von Business Credit sagten die auf die Eurozone spezialisierten Ökonomen der Kreditversicherungsgruppe Euler Hermes S. A. im letzten Jahr einen "positiven, aber begrenzten" Einfluss der quantitativen Lockerungen auf die Eurozone voraus und prognostizierten bis Juli 2016 ein Wirtschaftswachstum von 0,5% und eine Inflationsrate von 0,3%. Angesichts der neusten Entwicklungen scheint sich diese Vorhersage, die von vielen Experten geteilt wurde, als etwas zu optimistisch herauszustellen. Obwohl die EZB das Programm im Dezember 2015 ausgeweitet hatte, zeigen die aktuellen Daten, dass die Inflation bei den Verbraucherpreisen weiter bei 0,2% liegt und damit hinter den allgemeinen Erwartungen zurückbleibt.
Euler Hermes beobachtete richtig, dass die EZB im Vergleich zur US-Notenbank Federal Reserve und zur Bank of England erst sehr spät auf das deflationäre Bedrohungsszenario reagierte. Das Expertenteam wies überdies darauf hin, dass der "Übertragungsmechanismus in der Eurozone weniger klar ersichtlich ist, da die Privatwirtschaft hier nicht so eng mit den Finanzmärkten verwoben ist, wie in den USA oder dem Vereinigten Königreich." Unternehmen, die nicht im Finanzsektor tätig sind, nehmen zudem meist nur 10-20% ihre Kredite am Markt auf.
Außerdem investieren die privaten Haushalte in der Eurozone weniger Kapital in die Aktienmärkte und bevorzugen stattdessen Sparkonten oder Anleihen. Auch Immobilienbesitz wirkt sich hier in einem geringeren Maße auf die Konsumausgaben aus, als in den USA. Diese fundamentalen Unterschiede zwischen der Eurozone und den Vereinigten Staaten machen deutlich, dass das QE-Programm in Europa zahlreiche Hindernisse überwinden muss, um erfolgreich zu sein.
Die größte Hoffnung und auch der größte Erfolg der lockeren Geldpolitik in Europa ist, wie Euler Hermes feststellt, "die politische Signalwirkung" der Maßnahmen, die in der Theorie dazu führt, dass das Vertrauen in Unternehmerkreisen wächst und damit auch die Inflationserwartungen und die Kreditnachfrage wieder ansteigen. Unglücklicherweise hat sich die EZB aber erst vergleichsweise spät für QE entschieden. Dadurch wird es schwerer, die Auswirkungen der Deflation rückgängig zu machen.
Euler Hermes formuliert es folgendermaßen: "Um glaubwürdig gegen die Deflation anzukämpfen, muss die EZB nicht notwendigerweise riesige Mengen an Geld drucken. Schon die bloße Ankündigung eines realistischen Ziels würde eine positive Dynamik in Gang setzen, die zum Erreichen dieses Ziel führt."
Das Sprichwort "Besser spät, als nie" trifft möglicherweise auch auf die Versuche der EZB zu, die Deflation abzuwehren. Doch angesichts der dürftigen Erfolgsbilanz der Zentralbank sollten sich Investoren nicht allzu große Hoffnungen machen, dass die Bemühungen bald von Erfolg gekrönt sein werden.
Wenn die europäische Geldmengenpolitik also nicht der entscheidende Faktor ist, der der Weltwirtschaft 2016 neuen Aufwind verschafft, was könnte dann eine Verbesserung herbeiführen? Vertrauen ist der Grundpfeiler einer florierenden Wirtschaft, wie Ihnen jeder Ökonom bestätigen wird. Wenn Konsumenten, Investoren und Unternehmensinhaber von der Stabilität der Geschäftslage überzeugt sind, drücken sie dieses Vertrauen durch höhere Ausgaben aus, entweder um Konsumgüter zu kaufen, oder um Investitionen zu tätigen und das Geschäft zu erweitern.
Das Fehlen des Vertrauens in eine langfristige, stabile Erholung begrenzte in den letzten Jahren das Wirtschaftswachstum der USA. Jedes Mal, wenn es den Anschein hatte, als wäre die Wirtschaft bereit für einen echten Aufschwung, wurde diese Hoffnung durch eine äußere Bedrohung oder etwas anderes zunichte gemacht. Die unsicheren Aussichten auf globaler Ebene führten 2015 zu Kosteneinsparungen und viel zu niedrigen Investitionsaufwendungen unter den Unternehmen des S&P 500. Aufgrund des starken US-Dollars und des angeschlagenen Ölsektors gingen auch die Umsatzsteigerungen und Netto-Gewinne im Vergleich zum Vorjahr zurück. Das Vertrauen in die langfristigen Konjunkturaussichten ist seitdem zutiefst getrübt.
Ohne Vertrauen ist es kein großer Schritt mehr bis zur nackten Angst. Die Art der echten Angst, die in den Jahren direkt nach der Kreditkrise weit verbreitet war, wurde nicht mehr beobachtet, seitdem die Erholung 2013 an Fahrt aufgenommen hat. Natürlich ist das Vertrauen der Angst vorzuziehen, aber letztere kann zumindest dazu führen, dass die Maßnahmen beschlossen werden, die der Wirtschaft neuen Auftrieb geben, so wie das QE-Programm der Fed nach der Krise. Wenn das Vertrauen 2016 also nicht wieder zunimmt, läuft es vielleicht auf die Frage hinaus, wie viel Angst nötig ist, damit die Zentralbanken und Regierungen in den kommenden Monaten gemeinsam offensive Maßnahmen ergreifen.
Infolge der Kreditkrise hat der Kongress der Vereinigten Staaten einen großen Teil seiner Entscheidungsgewalt an die Fed abgetreten. In nationalen Finanzfragen muss er seine Autorität jedoch wieder durchsetzen. Durch Steuersenkungen und die Aufhebung regulatorischer Einschränkungen könnte das Vertrauen in die wirtschaftlichen Aussichten in Unternehmer- und Investorenkreisen gestärkt werden. Die derzeitige Regierung hat der Wirtschaft mit höheren Steuersätzen und zusätzlichen Vorschriften großen Schaden zugefügt, die Unsicherheit der Investoren verstärkt und die Kapitalinvestitionen ausgebremst.
Hinsichtlich der beiden Pole - Vertrauen und Angst - scheint es sicherer, darauf zu wetten, dass die Angst und nicht das Vertrauen im Jahr 2016 die treibende Kraft hinter den Bemühungen sein wird, die negativen Auswirkungen des weltweiten wirtschaftlichen Abschwungs rückgängig zu machen.
© Clif Droke
www.clifdroke.com
Dieser Artikel wurde am 11.01.2016 auf www.cdroke.blogspot.de veröffentlicht und exklusiv für GoldSeiten übersetzt.