Das Ende steigender Kapitalmarktzinsen
09.12.2022 | Prof. Dr. Thorsten Polleit
Die Zeichen mehren sich, dass die langfristigen US-Zinsen ihren Hochpunkt im aktuellen Zinssteigerungszyklus erreicht haben könnten. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Realzinsen in absehbarer Zeit weiter im Negativbereich verharren.
Auf den Finanzmärkten wird erwartet, dass die US-Zentralbank (Fed) ihren Leitzins bis Mitte 2023 zwar noch auf knapp 5 Prozent anheben wird, ihn aber bis Ende 2023 wieder um 50 Basispunkte abgesenkt haben wird. Die zehnjährige Rendite der US-Staatsanleihen ist von ihrem jüngsten Hoch von 4,23 Prozent am 24. Oktober 2022 auf nunmehr 3,50 Prozent gefallen. Aus Sicht der Investoren hat ganz offensichtlich der Zinserhöhungszyklus bei den Langfristzinsen den Gipfel bereits überschritten. Für diese - im aktuellen Hochinflationsumfeld eigentlich überraschende - Erwartungshaltung in den Märkten gibt es eine Reihe von Erklärungen.
Man kann an eine Eintrübung der US-Konjunktur im kommenden Jahr denken, die die Wahrscheinlichkeit einer Rezession erhöht. Auch geht vermutlich so mancher Investor davon aus, dass die aktuelle Hochinflation - im Oktober 2022 lag die offiziell ausgewiesene Inflation der Güterpreise bei 7,7 Prozent - abklingt, dass sie in den kommenden Monaten weiter nachgeben wird. Beides zusammen lässt es plausibel erscheinen, dass die Fed ihre Zinserhöhungen zumindest teilweise wieder rückgängig machen wird. Doch hinter der aktuellen Markterwartung könnte sich noch etwas Anderes verbergen: das Schuldenproblem.
Die US-Staatsverschuldung beläuft sich auf mittlerweile auf 31 Billionen US-Dollar. Im Jahr 2021 beliefen sich die Kreditzinsen auf 352 Mrd. US-Dollar - dank der extrem niedrigen Kurz- und Langfristzinsen. Würde der Kreditzins jedoch dauerhaft bei, sagen wir, 4 Prozent verharren, würden die Zinskosten nach und nach auf 1,2 Billionen US-Dollar steigen. Eine gewaltige Summe! Zum Vergleich: Die Verteidigungsausgaben der USA in 2021 betrugen 801 Mrd. US-Dollar. Eine solche Zinslast wäre kaum zu schultern, und vor allem wäre sie wohl auch politisch nicht gewünscht. Der Fed sind so gesehen zinspolitisch die Hände gebunden.
Warum hat die Fed dann überhaupt die Zinsen angehoben? Der Grund ist die Hochinflation bei den Konsumgüterpreisen. Die Hochinflation ist für viele Amerikaner ein sichtbares Problem, das auch politisch brisant ist. Der Verarmungseffekt, den eine Inflation bewirkt, droht, so zeigt die Erfahrung, Regierungen die Zustimmung durch das Volk zu versagen. Vor allem aber werden die Menschen bei anhaltender Hochinflation ihr Vertrauen in das Geld verlieren. Im Extremfall kommt es zur Flucht aus dem Geld, und der Staat verliert eines seiner effektivsten Machtinstrumente.
Mit Zinsanhebungen und Versprechungen, man werde die künftige Inflation wieder absenken, kann es der Zentralbank durchaus das ein oder andere Mal gelingen, verloren gegangenes Vertrauen wiederzuerlangen. Und zwar dann, wenn die breite Bevölkerung das "Spiel", das mit ihr gespielt wird, nicht durchschaut; wenn sie gutgläubig meint, die Hochinflation sei ein "Politikversehen", oder die Hochinflation sei wie eine Naturkatastrophe über sie gekommen und werde nun aber glücklicherweise von der Zentralbank "bekämpft" (obwohl es ja die Zentralbank ist, die die Hochinflation verursacht!).
Dass gerade die Fed ihre Glaubwürdigkeit jetzt vehement verteidigt, liegt vor allem auch daran, dass der US-Dollar de facto die Weltreservewährung ist. Das bringt den USA sehr große Vorteile. Beispielsweise sind viele Auslandsinvestoren bereit, ihr Kapital in US-Dollar denominierten Wertpapieren anzulegen. Das wiederum erlaubt es den Amerikanern, chronisch mehr zu importieren als zu exportieren, also ein permanentes Handelsbilanzdefizit auszuweisen. Der Reservewährungsstatus des US-Dollar hebt den materiellen Wohlstand Amerikas (im Vergleich zur Situation, in der der Greenback nicht die Weltreservewährung wäre).
Allerdings verlangen Investoren aus dem Ausland eine ausreichende Rendite, sonst bleibt der Kapitalzufluss in die USA aus. In den letzten Jahren lag der inflationsbereinigte US-Kurz- und Langfristzins tief im negativen Bereich (wie übrigens in anderen Währungsräumen auch). Investoren mögen das zwar für eine kurze Zeit akzeptieren, aber sicherlich nicht dauerhaft. Es liegt daher nahe, dass die Fed auch deshalb zu Zinserhöhungen gegriffen hat, um den Reservewährungsstatus des US-Dollar nicht zu gefährden. Allerdings ist eine Rückkehr zu "normalen Zinshöhen" dabei sicherlich nicht das Ziel - dafür ist die Schuldenlast in der US-Wirtschaft bereits zu hoch.
Es geht vielmehr darum, den Zins so niedrig wie eben möglich zu halten - unter der Bedingung, dass das Vertrauen in den US-Dollar im In- und Ausland erhalten bleibt. Welche Zinshöhe letztlich dafür erforderlich ist, lässt sich (noch) nicht sagen, die Fed wird sich ihr ihm im Zuge eines Versuchs-und-Irrtums-Prozesses versuchen anzunähern. Damit sind Risiken erhebliche verbunden. Zieht die Fed ihren Leitzins zu stark an, kann die ganze Schuldenpyramide in sich zusammenbrechen. Eine gewaltige Finanz- und Wirtschaftskrise wäre die Folge.
Bleiben hingegen die Zinssteigerungen hinter den Anforderungen der Investoren zurück (weil die Inflation zu hoch ist, der Realzins zu tief im Negativbereich verharrt), kann es brenzlig werden. Und zwar dann, wenn die Anleger erkennen, dass die Fed den Zins nicht weiter anheben kann, ohne dadurch Finanzmärkte und Wirtschaft zu "crashen". Der US-Dollar - und mit ihm vermutlich auch alle anderen großen Fiatwährungen auf der Welt - stünden dann wohl vor dem Absturz: Zur Finanzierung der offenen Rechnungen, so das Kalkül der Anleger, wird die Fed immer mehr neues Geld ausgeben, die Kaufkraft des Greenback immer stärker herabsetzen.
In diesem Zusammenhang sei betont, dass das fortschreitende Auftürmen der Schulden, für die das Fiatgeldsystem sorgt, ein Absinken der Zinsen im Zeitablauf erfordert. Das heißt, die Abfolge der Konjunkturzyklen ist begleitet von einem Trend fallender Zinsen. Die Reaktion der Zentralbank auf eine Krise besteht daher auch im sofortigen Absenken der Zinsen. Ist die Krise überwunden, hebt die Zentralbank die Zinsen zwar auch wieder an, aber sie erhöht die Zinsen nicht auf das Vorkrisenniveau. In der voranstehenden Abbildung soll das illustriert werden. Hier ist die Rendite der zehnjährigen US-Staatsanleihe von 1962 bis Anfang Dezember 2022 zu sehen.
Gut zu erkennen ist der Zinssenkungstrend, der zu Beginn der 1980er Jahre einsetzte. Fast wie mit dem Lineal gezogen, sind die US-Zinsen über die Zeit auf immer niedrigere Niveaus abgesunken. Deutlich zu sehen ist auch der "Ausbruch", der Anstieg der Zinsen seit März 2022. Er hat den langfristigen Abwärtstrend nach oben hin durchbrochen. Das besagt, dass jetzt die Kreditnehmer für neue und fällig werdende Kredite höhere Zinsen zu bezahlen haben als bisher, während die Gesamtverschuldung weitaus höher ist als noch vor wenigen Jahren.
Der Schluss liegt auf der Hand, dass das Fiatgeldsystem unter diesen Bedingungen - steigende Schulden, einhergehend mit steigenden Zinsen - nicht dauerhaft wie bisher fortgeführt werden kann. Wenn es aber das erklärte Ziel ist, das Fiatgeldsystem zu erhalten, dann wird die Fed nicht umhinkommen, die Zinsen bald wieder abzusenken, sie wieder auf die Bahn zu steuern, die durch den langfristigen Abwärtstrend näherungsweise vorgezeichnet ist. So gesehen ist die eingangs geschilderte Erwartung auf den Finanzmärkten, dass der Hochpunkt im aktuellen Zinserhöhungszyklus bei den Langfristzinsen bereits überschritten sein könnte, dass nun die Zinsen wieder absinken werden, durchaus nachvollziehbar.
Abschließend noch ein etwas gewagter(er) Gedanke: Verlängert man den Zinstrend in der obenstehenden Graphik "bis zum Ende", stößt man in einigen Jahren (im hier betrachteten Fall etwa 2034) auf die Nulllinie. Und genau dorthin wird man die Zinsen führen müssen, wenn das Fiatgeldsystem, so lange es eben geht, aufrechterhalten werden soll. Der Weg dorthin wäre sehr wahrscheinlich von negativen Realzinsen begleitet, von einer schrumpfenden Kaufkraft des Geldes. Sollte es wirklich soweit kommen, dass der Zins die Nulllinie erreicht, wäre allerdings die moderne arbeitsteilige Volkswirtschaft sprichwörtlich zu Ende.
Ohne einen positiven (Nominal-)Zins hört das Wirtschaften, wie wir es im neuzeitlichen Westen kennen, auf. Ohne Zins wird niemand bereit sein, seine Ersparnisse für eine gewisse Zeit auszuleihen. Investoren finden keine Fremdmittel mehr, um ihre Projekte in die Tat umzusetzen. Das Sparen hört auf, das, was nicht aus dem laufenden Einkommen konsumiert wird, wird gehortet. Der Kapitalstock der Volkswirtschaft wird sprichwörtlich verkonsumiert, und ist er erst einmal aufgebraucht, wird er nicht wieder erneuert, Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen bleiben aus.
Ohne Zins fällt eine Volkswirtschaft in "vorkapitalistische Zeiten" zurück - die Gesundheit, die Existenz, das Überleben größter Teile der Weltbevölkerung wäre vermutlich nicht mehr zu gewährleisten. Dass es tatsächlich möglich ist, zumindest ausgewählte Zinsen zeitweise auf oder gar auch unter die Nulllinie zu bringen, hat die jüngste Vergangenheit gezeigt. Eine Wiederholung ist gut denkbar, wenn dabei die Inflation nicht völlig aus dem Ruder läuft. Doch es wäre ein unheilvoller Zinssenkungstrend, den das Festhalten am Fiatgeldsystem erzwingt.
Ausgewählte Notenbankzinsen - und realer 2-Jahreszins in Prozent*

Sie fragen sich: Warum zeigen wir Ihnen die Abbildungen (a) bis (e)? Antwort: Sie sollen Ihnen zeigen, dass die Realzinsen - die Nominalzinsen nach Abzug der Inflation - chronisch negativ sind. Das heißt: Die Zentralbanken in den großen Währungsräumen entwerten das Geld, und damit entwerten sie auch die Bankguthaben und Staatsschuldpapiere, die viele Menschen für ihre Altersvorsorge halten. Daher: Halten sie nur so wenig wie möglich US-Dollar, Euro & Co, minimieren sie, wenn möglich, ihre Kassenhaltung in diesen Währungen.
© Prof. Dr. Thorsten Polleit
Auszug aus dem Marktreport der Degussa Goldhandel GmbH