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Inverse Zinskurve und Rezessionssorgen

19.03.2023  |  Prof. Dr. Thorsten Polleit

In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Zinskurve seit geraumer Zeit "invers". Das heißt, der Langfristzins liegt unter dem Kurzfristzins. In der Vergangenheit war eine solche Entwicklung am Zinsmarkt häufig mit einer Rezession verbunden. Wie sich das erklärt, und welche Folgen der steigende Zins für den Konjunkturverlauf hat, soll im Folgenden kurz erklärt werden.

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Quelle: Refinitiv; Berechnungen Degussa. *Basispunkt: 100 Basispunkte entsprechen einem Prozentpunkt.
**Durchschnittliche Jahresveränderung in einem Jahr, zentriert. Erklärung: In den 1970er und 1980er Jahren sorgte die US-Zentralbank das ein oder andere Mal für "Stabilisierungsrezessionen". Um die Inflation in die Knie zu zwingen, war sie bereit, einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in Kauf zu nehmen. Die Finanzmärkte erwarteten jedoch, dass die Notenbankzinsen früher oder später wieder gesenkt werden würden. Der Langfristzins reagierte früher als der Notenbankzins, und dadurch rutschte der Langfristzins unter den Kurzfristzins, die Zinskurve wurde "invers". In diesen Phasen gingen beispielsweise auch die Aktienkurse zurück, weil die Zentralbank den Zins hochhielt, die Inversion der Zinskurve andauerte, und die Wirtschaft in der Rezession verblieb. Die US-Geldpolitik hat mit dem Beginn der Amtszeit von Alan Greenspan im Oktober 1987 als Vorsitzender der US-Zentralbank weniger auf Inflation als vielmehr verstärkt auf "Krisenbekämpfung" reagiert. Das galt auch für seine Nachfolger. Deshalb ist die Beziehung zwischen der Zinskurve und Aktienkursänderungen in den letzten Jahrzehnten „lockerer“ geworden. Tendenziell war jedoch auch hier meist ein Abflachen, eine Inversion der Zinskurve verbunden mit Wirtschafts- und/oder Finanzmarktstörungen. So gesehen ist der Blick auf die Zinskurve sinnvoll, wenn man sich ein Bild über künftige Konjunktur- und Aktienmarktentwicklung machen möchte.


Der Langfristzins ist das Ergebnis der erwarteten künftigen Kurzfristzinsen. Der Grund: Man kann sich entweder eine zehnjährige Anleihe kaufen oder zehn Mal hintereinander einjährige Anleihen erwerben. Beide Strategien sollten (in einem arbitragefreien) Markt zum gleichen Resultat (Anlagerendite) führen.

Den Kurzfristzins bestimmt die Zentralbank. Sie setzt beispielsweise den Tageszins oder einen zweiwöchigen Zins im Interbankenmarkt. Dadurch hat sie die "Zinsführerschaft" im gesamten Kreditmarkt inne. Und wenn die Zentralbankräte die Erwartungen der Investoren mit Blick auf den künftigen Kurzfristzins beeinflussen können, dann haben sie auch sprichwörtlich den Langfristzins im Griff. Wie kommt es vor diesem Hintergrund zu einer Inversion der Zinskurve?

Fällt der Langfristzins relativ gegenüber dem Kurzfristzins, so erwarten die Marktakteure ganz offensichtlich, dass die Zentralbank ihren Leitzins, mit dem sie die Kurzfristzinsen bestimmt, bald wieder absenken wird. Eine Inversion der Zinskurve reflektiert so gesehen die Erwartung der Investoren, dass die Kurzfristzinsen nicht dauerhaft auf dem gegenwärtig zu beobachtenden Niveau gehalten, sondern vielmehr (wieder) abgesenkt werden. Eine solche Interpretation der aktuellen Zinsmarktentwicklung scheint sehr plausibel zu sein, wenn man die US-Dollar- und auch die Euro-Kreditmärkte beobachtet.

Eine Inversion der Zinskurve ist für den Bankenapparat äußerst problematisch. Banken betreiben Fristentransformation. Sie vergeben langfristige Kredite und finanzieren sie mit Einlagen oder Krediten, die eine kürzere Laufzeit haben. Weil die Langfristzinsen im Normalfall höher sind als die Kurzfristzinsen, lässt sich auf diese Weise ein Ertrag erzielen, mit dem die Bank Rücklagen für Kreditrisiken bilden, Betriebskosten decken und auch einen Gewinn erzielen kann. Flacht sich die Zinskurve ab, wird die Kreditvergabe für die Banken weniger ertragreich und nimmt daher tendenziell ab. Bei einer anhaltenden Inversion kann sogar die Neukreditvergabe zum Erliegen kommen – und dann kippt die Konjunktur.

Nach vielen Jahren der Niedrig- beziehungsweise Nullzinspolitik haben die Zinserhöhungen der US-Zentralbank (Fed) geradezu explosive Wirkungen. Die Fed bestimmt schließlich nicht nur die Konditionen in den US-Kreditmärkten, sondern ihre Zinspolitik hat auch Rückwirkungen auf die weltweiten Darlehenskonditionen, ja auf das gesamte internationale Finanzmarkt- und Wirtschaftsgeschehen – schließlich ist der US-Dollar immer noch die de facto Weltleitwährung, die bedeutendste Handels- und Finanztransaktionswährung (auch wenn dieser Status mittlerweile Risse bekommt).

Die seit Anfang des letzten Jahres merklich gestiegenen US-Zinsen beeinflussen nahezu jeden Bereich des Wirtschaftens. Dazu einige Beispiele.



(1) Steigende Zinsen verteuern die Kreditfinanzierung. Unternehmen bemerken, dass sich viele Investitionen bei erhöhten Kreditkosten nicht mehr rechnen. Konsumenten müssen feststellen, dass sie sich steigende Zinskosten (beispielsweise für Hypothekar- oder Autokredite) nicht mehr leisten können. Entsprechend nimmt die Kreditnachfrage ab, es wird weniger investiert und konsumiert, die Wirtschaftsleistung nimmt ab.

(2) Steigende Zinsen führen zu einem Preisverfall von zum Beispiel Aktien und Immobilien. Bei Aktien etwa werden die künftig erwarteten Gewinne mit einem nunmehr erhöhten Zins abdiskontiert. Das senkt den Barwert der Aktie und damit auch ihren Kurswert an der Börse. Zusätzlich führen steigende Zinsen zu erhöhten Zinsaufwendungen bei den Firmen, die ihren Gewinn schmälern, und auch das führt zusätzlich zu niedrigeren Barwerten der Aktien und entsprechend zu geringeren Börsenkursen. Ganz ähnlich verhält es sich bei Immobilien: Auch hier senkt ein steigender Zins den Barwert der Mieteinnahmen und damit den Gesamtwert von Häusern und Grundstücken.

An dieser Stelle sei kurz anhand eines Zahlenbeispiels aufgezeigt, wie stark die jüngsten Zinserhöhungen der Zentralbanken wirken. Betrachten wir eine Anleihe mit einem Nennwert in Höhe von 100 Euro, die ein Zinscoupon von 1 Prozent trägt, und die eine Laufzeit von zehn Jahren hat. Liegt der Marktzins bei 1 Prozent, so beträgt der Barwert der Zins- und Tilgungszahlung(en), die den Marktpreis der Anleihe bestimmen, 100 Euro. Steigt der Marktzins dann auf, sagen wir, 2 Prozent, sinkt der Anleihekurs auf 91,02 Euro – ein Kursverlust von 8,9 Prozent.

Steigt der Marktzins gar auf 4 Prozent, sackt der Kurs der Anleihe auf 75,67 Euro ab – ein Verlust von 24 Prozent. Anleger erleiden dadurch nicht nur Buchverluste in ihren Bilanzen (die sich allerdings bis zum Ende der Laufzeit abbauen, wenn die Schuldner ihren Schuldendienst vollumfänglich leisten). Sie erleiden auch Opportunitätskosten: Sie haben Anleihen mit einer sehr niedrigen Verzinsung gekauft, hätten ihr Geld besser angelegt zum jetzt erhöhten Zins. Als Daumenregel gilt: Je niedriger der Zinscoupon einer Anleihe, desto stärker reagiert ihr Kurs auf Zinserhöhungen. Und je länger die Laufzeit einer Anleihe, desto stärker reagiert sie auf Zinserhöhungen.


(3) Steigende Zinsen verschlechtern die Finanzlage der Schuldner, lassen die Kreditausfallrisiken steigen. Man denke an dieser Stelle nur einmal an die Praxis der "Dauerschuldnerei", die die Staaten betreiben. Staaten nehmen Kredite auf, die, wenn sie fällig werden, durch neue Kredite ersetzt werden, und zusätzlich dazu nehmen Staaten auch noch weitere Darlehen auf. Das kann lange Zeit gut gehen, wenn die Zinsen fallen. In einem solchen Umfeld ist es zuweilen sogar möglich, dass die Zinskosten abnehmen relativ zur Wirtschaftsleistung, obwohl die Verschuldung in die Höhe steigt. Das Problem kommt dann, wenn die Zinsen steigen.

Dabei ist zu beachten, dass die Wirkung steigender Zinsen mit einer Zeitverzögerung einsetzt. Das liegt daran, dass die ausstehenden Schulden nicht sogleich fällig werden und mit einem nunmehr höheren Zins refinanziert werden müssen, sondern jedes Jahr muss ein gewisser Anteil der ausstehenden Schulden durch neue Kredite ersetzt werden. Daher erhöhen sich die Zinsrechnungen in der Volkswirtschaft nicht schlagartig, sondern nach und nach. Ein erhöhter Zins mag anfänglich noch als verkraftbar angesehen werden. Im Zeitablauf tritt dann jedoch zutage, dass der erhöhte Zins die Schuldner überfordert.

Mit Blick auf viele Volkswirtschaften der Welt, insbesondere die in der westlichen Welt, ist folgendes zu beobachten:

(1) Die Verschuldung ist sehr hoch, in vielen Ländern auf Rekordständen, finanziert zu sehr niedrigen Zinsen.

(2) Die langanhaltende Phase der Niedrig- beziehungsweise Nullzinspolitik hat die Produktionsund Beschäftigungsstruktur maßgeblich geprägt, so dass die Zinserhöhungen zu Kapitalentwertung führen, zur Notwendigkeit, Kapital in neue Verwendungen zu lenken.

(3) Steigende Zinskosten erhöhen die Krisenanfälligkeit der Volkswirtschaften, Kreditausfälle werden wahrscheinlicher.

(4) Die Hochinflation, für die die Zentralbanken mit ihrer starken Geldmengenvermehrung gesorgt haben, senkt die realen Einkommen von Konsumenten und Produzenten, bremst die Konjunkturen ab, erhöht die Rezessionswahrscheinlichkeit.

So gesehen scheint die Botschaft der Zinskurve zu sein: Die US-Zentralbank hat mit ihrer Zinspolitik bereits den nachhaltig tragbaren Zins überschritten, und der Prozess der Zinsanpassung geht sehr wahrscheinlich mit einer Abschwächung oder gar Rezession der Wirtschaft einher. Spätestens mit der Pleite der Silicon Valley Bank am 10. März 2023 und deren möglichen Konsequenzen für das USamerikanische und auch weltweite Bankensystem stellt sich die Frage, wann die US-Zentralbank zinspolitisch umschwenkt – das heißt weitere Zinserhöhungen aussetzt beziehungsweise die Zinsen wieder absenkt.

Es ist also wahrscheinlich, dass sich bei den Zentralbanken die Schwerpunkte verschieben: Die Stützung der Banken und der Konjunktur werden wichtiger, als die Inflation auf niedrigere Niveaus zu bringen. Das ist ebenfalls eine Deutung, die der Blick auf die Zinskurve und die Folgen gestiegener Kurzfristzinsen erlaubt.


© Prof. Dr. Thorsten Polleit
Auszug aus dem Marktreport der Degussa Goldhandel GmbH