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Warum wir uns nicht so ohne Weiteres auf unsere Erfahrung verlassen können

28.05.2023  |  Prof. Dr. Thorsten Polleit

Es gibt Erfahrungswissen: Wir Menschen sammeln sinnliche Eindrücke, wir sehen, hören, riechen, fühlen. Dadurch finden wir heraus, wie Dinge sind, wie verschiedene Sachverhalte zusammenhängen. Niemand wird bestreiten, das Erfahrungswissen nützlich ist, dass es uns hilft, uns in unserer Lebensrealität besser zurechtzufinden.

In der Wissenschaft ist man in der Regel etwas "strenger" unterwegs als im Alltagsgeschäft: Wissenschaftler suchen nach wahren Aussagen, nach Regelmäßigkeiten beziehungsweise Gesetzmäßigkeiten – etwa in der Form von "Wenn A, dann B" oder "Wenn A um X Prozent steigt, verändert sich B um Y Prozent". Doch lassen sich derartige Erkenntnisse aus Erfahrungen gewinnen? Die Antwort ist nein. Der Grund ist das Induktionsproblem.

Ein Beispiel zur Erklärung. Fast bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war man überzeugt, dass Schwäne weiß seien. Man hatte schließlich bisher nur weiße Schwäne gesehen. Dann jedoch, im Jahr 1697, entdeckten Europäer bei der Erkundung Australiens doch tatsächlich schwarze Schwäne. Und damit erwies sich der als bisher wahr erachtete Satz "Alle Schwäne sind weiß" als falsch.

Das Beispiel zeigt (und viele andere lassen sich anführen), dass selbst viele hunderte, tausende oder abertausende Beobachtungen, auch wenn sie immer zum selben Resultat geführt haben, kein Garant sind – und auch nicht sein können –, um aus Erfahrungen wahre Aussagen (also Aussagen, die immer und überall Gültigkeit beanspruchen können) ableiten zu können.

Übrigens lässt sich das soeben geschilderte Induktionsproblem auch mit logischen Mitteln einsehen. Wenn man aus Erfahrungen wahre Aussagen ableiten könnte (soweit man keine Fehler dabei macht), dann gäbe es ja nicht die (vermutlich von jedem schon einmal erlebte) Erfahrung, dass sich aus Erfahrung gewonnene Aussagen doch als falsch erweisen. Und man könnte auch nicht sinnvollerweise behaupten, dass Erfahrungswissen wahr sei, weil man bisher nur Erfahrungen gemacht habe, die sich als wahr herausgestellt haben. Das wäre ein irriger Zirkelschluss: Man würde versuchen, Erfahrungswissen mit Erfahrungswissen zu begründen.

In den Naturwissenschaften ist es nun allerdings durchaus möglich, Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten durch Erfahrung (Beobachtung, Messung) aufzuspüren. Ganz einfach deshalb, weil es ganz offensichtlich und nachweislich derartige Gesetzmäßigkeiten in der Natur gibt, und die sich durch das Machen von Erfahrung zutage befördern lassen. Aber auch hier gilt im Grunde letztlich: Eine letzte (nicht hintergehbare) Beweisführung ist mit und durch Erfahrung, um letztgültige Sicherheit über den Wahrheitsgehalt einer Erfahrungsaussage (Theorie, Hypothese) zu bekommen, auch hier nicht möglich.

Und wie sieht es im Bereich des menschlichen Handelns aus? Man kann natürlich beobachten, wie sich bestimmte Menschen unter bestimmten Bedingungen verhalten beziehungsweise verhalten haben. Beispielsweise führt man Untersuchungen im Verhaltenslabor durch (misst, wie einzelne Personen auf bestimmte Impulse reagieren). Oder man analysiert historische Daten (beispielsweise, auf hoch aggregierter Ebene, wie die Kauf- und Verkaufsentscheidungen der Goldanleger kurz vor oder kurz nach Zentralbank-Zinsentscheidungen ausgefallen sind).

Aber solche Beobachtungen können nur zeigen, wie Menschen sich verhalten haben, nicht aber, dass sie sich notwendigerweise in dieser oder jener Art verhalten mussten, dass sie sich nicht auch anders hätten verhalten können. Anders gesagt: Aus historischen Beobachtungen des menschlichen Handelns lassen sich – das Induktionsproblem lässt grüßen – keine Gesetzmäßigkeiten ableiten.

Und noch etwas sehr Wichtiges ist an dieser Stelle zusätzlich zu bedenken: Die Methode zur Erzielung von Erkenntnis, wie sie in der Naturwissenschaft eingesetzt wird, ist im Bereich des menschlichen Handelns gänzlich untauglich. Warum das? Weil es im Bereich des menschlichen Handelns keine Verhaltenskonstanten gibt – in dem Sinne etwa, dass "Wenn A, dann immer B".

Handelnde Menschen sind (anders als Atome, Steine oder Planeten) nämlich lernfähig. Diese Aussage lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen. Sie gilt a priori. Eine a priori Aussage ist eine nicht-empirische Aussage, die notwendigerweise wahr ist, und die Allgemeingültigkeit beansprucht, die also keine Ausnahme zulässt. Eine Aussage a priori lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen, denn dadurch würde man ihre Gültigkeit schon voraussetzen.

Wenn du sagt "Der Mensch ist nicht lernfähig", dann sagst du ganz offensichtlich etwas zu mir, von dem du meinst, ich wisse es noch nicht, dass ich es aber lernen kann. Ansonsten (wenn du also der Auffassung wärst, ich wüsste schon das, was du mir sagst) würdest du es nicht sagen. Zu sagen "Der Mensch ist nicht lernfähig" ist ein performativer Widerspruch, kann also nicht wahr sein. Und wenn du sagst "Der Mensch kann lernen, nicht zu lernen", dann begehst du einen offenen Widerspruch, machst also auch hier eine falsche Aussage.



Wenn wird zum Ergebnis kommen, dass der handelnde Mensch lernfähig ist, dann folgt daraus, dass er seine künftigen Wissensstände heute noch nicht kennen kann; und folglich kann er auch seine Handlungen nicht schon heute kennen, die er/sie aufgrund künftiger Wissensstände durchführen wird. Was bleibt da, um Erkenntnisse über das menschliche Handeln zu gewinnen?

Die Antwort lautet: die Logik. Genauer: die Logik des menschlichen Handelns. Wir wissen mit Gewissheit, dass der Satz "Der Mensch handelt" wahr ist – dass er a priori gilt. Wenn du sagst "Nein, der Mensch handelt nicht", so ist das eine Handlung, und das widerspricht dem Gesagten. Ausgehend von dem apriorisch wahren Satz "Der Mensch handelt", lassen sich weitere wahre (apriorisch gültige) Sätze ableiten.

Beispielsweise dass menschliches Handeln stets zielbezogen ist (was auch immer die Ziele sein mögen); dass der Mensch Mittel einsetzen muss, um seine Ziele zu erreichen; dass Handeln Zeit erfordert, es gibt kein Handeln ohne Einsatz von Zeit; dass die Zeitpräferenz und seine Manifestation, der Urzins, stets positiv sind, nicht verschwinden, nicht negativ werden können.

Diese und weitere apriorische Aussagen sind – so würde es der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) sagen – Kategorien, das heißt Grundformen des Denkens. Damit sind die Eigenschaften gemeint, die wir als Menschen den Gegenständen, die wir erfahren, quasi aufdrücken. Anders gesagt: Erfahrungen, die den Kategorien unseres Denkens widersprechen, sind für uns unsinnig, widersprüchlich.

Und damit gibt uns die Logik des menschlichen Handelns einen Maßstab an die Hand, mit dem wir beispielsweise ökonomische Theorien als richtig oder fehlerhaft einsehen können (soweit wir selbst keine Anwendungsfehler dabei begehen, wohlgemerkt). Wir können beispielsweise mit handlungslogischen Mitteln wissen (ohne dass wir dazu Tests durchführen müssten), dass die Vermehrung der Geldmenge die Kaufkraft der Geldeinheit absenkt – im Vergleich zur Situation, in der die Geldmenge nicht vermehrt wird.

Oder: Das Ansteigen des Angebots führt bei unveränderter Nachfrage zu einem Preisrückgang des betreffenden Gutes. Oder: Der Urzins, den wir als handelnde Menschen quasi in uns tragen, kann nicht null oder negativ werden. Oder: Eine freiwillige Transaktion im freien Markt ist für die daran Beteiligten nutzenstiftend. Diese (und andere) Aussagen lassen sich als wahr durch handlungslogisches Denken einsehen. Man muss keine Tests dazu durchführen.

Wie steht es mit dem Prognostizieren im Bereich des menschlichen Handelns? Natürlich lässt sich nicht vorhersehen, wie Menschen künftig handeln. Die Handlungslogik erlaubt jedoch, die qualitativen (nicht die quantitativen) Konsequenzen menschlicher Handlungen, die unter bestimmten Bedingungen erfolgen, mit Gewissheit zu erfassen. Aber ein Prognostizieren in dem Sinne, dass das Bruttoinlandsprodukt in 2024 um 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr fällt, ist mit der Handlungslogik nicht möglich beziehungsweise lässt sich nicht begründen. Denn das übersteigt sprichwörtlich den Bereich der Wissenschaftlichkeit, den die Logik des menschlichen Handelns absteckt.

Will man im Bereich des menschlichen Handelns prognostizieren, muss man auf eine andere Methode zurückgreifen, und zwar die Methode des Verstehens.

Ludwig von Mises schreibt dazu: "Die verstehenden Wissenschaften bedienen sich aller geistigen Hilfsmittel, die ihnen die apriorischen Wissenschaften Logik, Mathematik und Praxeologie [gemeint ist damit: die Logik des menschlichen Handelns, A. d. V.] und die empirischen Naturwissenschaften zur Verfügung stellen, und darüber hinaus ihrer spezifischen Methode: des Verstehens. Dabei muss darauf geachtet werden, dass das Verstehen nirgends in Widerspruch mit dem gerate, was durch apriorische Untersuchung und durch naturwissenschaftliche Erfahrung festgestellt wurde."¹

Mit der Methode des Verstehens verfügen wir gewissermaßen über einen Prüfstein: All das, was gegen die apriorischen Erkenntnisse verstößt, kann nicht als wahr gedacht werden; und alles was gegen die empirischen Erkenntnisse verstößt, steht unter Erklärungszwang, kann nicht ungesehen als wahr akzeptiert werden. In einer Zeit, in der das Erfahrungswissen besonders hochgehalten wird, ist das eine sehr wichtige Erkenntnis für alle, die sich gerade in der heutigen Welt, in der so viel Verwirrung bei den Menschen anzutreffen ist, besser zurechtfinden wollen.


© Prof. Dr. Thorsten Polleit
Auszug aus dem Marktreport der Degussa Goldhandel GmbH



¹ Mises (1940), Nationalökonomie, S. 54.