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Die post-reale Wirtschaft

20.04.2017  |  John Mauldin
- Seite 4 -
Physik ist fraglos eine exakte Wissenschaft. Aber ist Makroökonomie das auch? Ich war nie dieser Ansicht. Für mich war intuitiv schon immer klar, dass kein Modell je die Auswirkungen von ungezählten Billionen menschlicher Entscheidungen würde darstellen können, die sich zu dem komplexen und dynamischen System vereinen, das wir Wirtschaft nennen. Wenn Sie eine wirtschaftliche These aufstellen und überprüfen können, leisten Sie wahrscheinlich wertvolle Arbeit, aber die Ergebnisse werden ihrer Natur nach immer beschreibend und zwangsläufig ungenau sein. Die Nützlichkeit Ihrer Untersuchungen mag in der realen Welt erkennbar sein, aber sie sollten nicht unbedingt den Status einer Verordnung haben.

Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften gibt es zahlreiche Felder, die den Naturwissenschaften viel näher kommen. Verhaltensökonomen erforschen beispielsweise, wie Personen unter bestimmten Voraussetzungen Entscheidungen treffen. Sie entwerfen Experimente, führen diese mit echten Menschen durch und beobachten die Resultate. Diese Arbeit liefert uns eine Reihe nützlicher Erkenntnisse. Die Makroökonomie, so wie sie derzeit angewendet wird, tut das eher nicht.


Informationstheorie und komplexe Systeme

Wenn wir die Hoffnung auf korrekte Wirtschaftsanalysen nicht aufgeben wollen, müssen wir weiterhin versuchen, die Komplexität natürlicher Systeme zu verstehen - denn genau das ist die Wirtschaft. Das grundlegende Ziel von Wirtschaftspolitik sollte darin bestehen, dynamische, wachstumsorientierte Komplexität in der Form von unternehmerischem Handeln fördern. Um dieses Handeln zu verstehen und zu unterstützen, müssen wir die Informationstheorie mit dem neuen Feld der Komplexitätsökonomik verbinden.

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Informationstheorie. Diese wird in dem Buch "Knowledge and Power" meines Freundes George Gilder vielleicht am besten erklärt.

In der Informationstheorie geht es im Grunde genommen um die Unterscheidung von Signalen und Rauschen. Ein Signal wird über die Luft gesendet oder von einer Telefonleitung oder einem Glasfaserkabel übertragen und die Herausforderung besteht darin, das eigentliche Signal von dem begleitenden Rauschen zu unterscheiden.

In der Welt der Wirtschaft muss ein Unternehmer im allgemeinen Hintergrundrauschen der Märkte Signale dafür erkennen, dass ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung benötigt wird. Wenn eine Kraft - z. B. eine Regierung oder eine Zentralbank - die Signalübertragung stört, indem sie das Rauschen verstärkt, wird es dem Unternehmer eventuell schwer fallen, die Signale richtig zu interpretieren und er könnte am Ende auf eine falsche Nachricht reagieren. (Natürlich gibt es auch in Situationen, in denen eine Regierung eingreifen und signalisieren muss, dass ein bestimmtes Verhalten für das allgemeine Wohl der Gesellschaft nicht akzeptabel ist.)

"Die Wirtschaft ist nicht in erster Linie ein Anreizsystem", versichert George Gilder, "sie ist ein Informationssystem." Wenn die Informationen richtig verstanden werden, sorgen sie für die Einführung von Neuerungen und "Überraschungen" in ein System. Im Fall der Wirtschaft bedeutet das: Erfindungen und Unternehmertum. Die neue Information wird in Wissen umgewandelt und daher, so Gilder, besteht wahres Vermögen nicht aus Geld oder materiellen Gütern, sondern aus angehäuftem Wissen. Die Wirtschaft wird nicht primär von einflussreichen Personen und Institutionen gelenkt, die an den Schalthebeln herumspielen, sondern vielmehr von der immer weiter wachsenden Macht der Informationen und des Wissens.

Ökonomen und die Regierungen, für die sie arbeiten, scheinen oft eine deterministische Wirtschaft ohne Überraschungen (und too big to fail) zu bevorzugen, doch dieser Weg führt zu wirtschaftlicher Stagnation. Wenn Determinismus funktionieren würde, wäre der Sozialismus ein Erfolgsmodell geworden. Wissen ist dezentral: Es ist in den Köpfen der Menschen verteilt. Nie war das zutreffender und deutlicher als heute, im Zeitalter des Internets.

In der vor uns liegenden Epoche, in der uns die Grenzen der Geld- und Währungsmanipulation sowie der materiellen Ausbeutung auf schmerzliche Weise aufgezeigt werden, liegt unsere größte Hoffnung auf wirtschaftliches Wachstum in dieser universellen Verteilung des Wissens, welches sich durch die kreativen Erkenntnisse und unternehmerischen Aktivitäten der Menschen auf der ganzen Welt wieder mit der Wirtschaft verknüpft.

Hier ist ein vielsagendes Zitat von George Gilder: "Staatliche Ausgaben zur 'Stimulierung' der Wirtschaft, ob sie nun durch Schulden oder durch Steuern finanziert werden, ersetzen Wissen zwangsläufig durch Staatsgewalt und zerstören damit Informationen und bremsen das Wirtschaftswachstum."

Die Lage ist klar: Entweder erfinden wir uns selbst und die Weltwirtschaft neu, oder das offensichtlich zunehmende Rauschen im System wird die Schaffung und Übertragung von Wissen unterbinden und das große Streben der Menschheit nach der Demokratisierung von Wohlstand wird scheitern. George schreibt allerdings: "Kapitalismus ist kein Gleichgewichtssystem, sondern ein durch Störungen und Fortschritte gekennzeichneter Motor. [...] Eine kapitalistische Marktwirtschaft kann sich so schnell verändern, wie sich die Ansichten und das Wissen der Menschen ändern können." Wir haben also Grund zur Hoffnung.

Ein weiteres aufstrebendes Gebiet ist die sogenannte Komplexitätsökonomik, die eher geeignet ist als der Keynesianismus, die gewünschten makroökonomischen Forschungsergebnisse zu erbringen. Sie wurde von einer umfassenderen Komplexitätstheorie abgeleitet, die zahlreiche Gebiete umschließt. Die gemeinsame Verbindung zwischen diesen Forschungsfeldern ist, dass sie sich alle mit komplexen Systemen beschäftigen.

Ihr Körper ist beispielsweise ein solches komplexes System. Sie bestehen aus Billionen von Zellen, die sich auf bestimmte Aufgaben spezialisieren, sich aber auch an veränderte Bedingungen anpassen. Ihre weißen Blutkörperchen erkennen eine Infektion, reagieren darauf und stellen die Reaktion wieder ein, sobald sie feststellen, dass die Infektion verschwunden ist. Andere Systeme reagieren auf verschiedene Weisen, um diese Abwehrreaktion zu unterstützen. Woher wissen all die verschiedenen Zellenarten, was genau sie wann tun sollen? Genau das macht ein komplexes System aus.

Volkswirtschaften sind ähnlich komplex. Millionen von Konsumenten und Produzenten verfügen alle über individuelle Ressourcen: Kapital, Land, Arbeitskraft, Wissen usw. Sie sind permanent damit beschäftigt zu kaufen, zu verkaufen, zu lernen, zu kreieren, zu zerstören und die Elemente des Systems auf andere Weise zu beeinflussen. Es ist ein gigantisches Chaos, wenn man einmal darüber nachdenkt, doch auf irgendeine Weise entsteht aus diesem Chaos eine gewisse Ordnung.

Oder? Was wir als Ordnung wahrnehmen, existiert in dieser Form vielleicht gar nicht, weil sich die Bedingungen ständig ändern, auch wenn wir diese Veränderungen nicht sofort erkennen. Diese Realität zeigt einen fundamentalen Unterschied zwischen der klassischen und der keynesianischen Wirtschaftslehre mit ihren Gleichgewichtsmodellen und dem neuen Gebiet der Komplexitätsökonomik auf. Letztere erkennt die Tatsache an, dass es in einem System, welches permanenten Änderungen unterliegt, kein Gleichgewicht geben kann. Die Komplexitätsökonomik akzeptiert zudem, dass Menschen nicht perfekt informiert sind und daher auch keine perfekten Entscheidungen treffen.


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