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Wirtschaftliche Absurditäten und ein seltsamer Sommer

17.06.2016  |  John Mauldin
- Seite 3 -
Der Brexit: Es wird ernst

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals werden die Bürger des Vereinigten Königreichs am 23. Juni darüber abstimmen, ob sie die europäische Union verlassen wollen. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass die Entscheidung sehr knapp wird und die Befürworter des Brexits derzeit ganz leicht vorn liegen. Die Erhebung, die ich heute Nachmittag gesehen habe, kam allerdings zu dem Ergebnis, dass die Gegner des Austritts sogar ganze zehn Punkt zurückliegen, mit 55% der Befragten für den Brexit. Wichtiger ist noch, dass die Zustimmung zum EU-Austritt in den letzten Wochen deutlich angestiegen ist. Wenn Sie den Brexit ablehnen, haben Sie mittlerweile allen Grund zur Sorge.

Es ist schwer, die Auswirkungen zu überschätzen, die ein Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hätte. Sie wären weit über die Grenzen Großbritanniens hinaus spürbar. Das Land ist nach Deutschland die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Europäischen Union und zählt zu den stärksten Exporteuren. Selbst nach jahrelanger Planung könnte der Brexit das Jahr-2000-Problem noch lächerlich erscheinen lassen.

Eine Hauptgrund zur Sorge ist die Frage, welche Entwicklungen in anderen europäischen Staaten ausgelöst würden, wenn die Abstimmung zugunsten des EU-Austritts entschieden werden sollte. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew zeigt, dass die französischen Wähler eine noch größere Abneigung gegen die EU haben, als die Briten, wie Ambrose Evans-Pritchard in der Tageszeitung The Telegraph berichtet. 61% der Befragten in Frankreich bewerten die EU überwiegend negativ, während es in Großbritannien 48% sind. Auch in Deutschland und Spanien sind die Meinungen nicht viel positiver. Die EU ist in den Augen der Bürger ihrer größten Mitgliedsstaaten keineswegs eine "immer enger zusammenwachsende Union".

Gestern bekam ich von Brent Donnelly (einem Trader par excellence bei Citi FX, dessen allmorgendliche Notizen Pflichtlektüre sein sollten) die folgende Nachricht, in der er die Londoner Tageszeitung Daily Express zitiert:

"Die EU zerfällt: Nach dem historischen Brexit-Referendum wollen auch die Niederlande eine Abstimmung durchführen.

Neun von zehn Niederländern hoffen, dass das Land angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der Brüsseler Bürokratie sein eigenes Referendum abhalten wird. Ganze 88% der von einer führenden niederländischen Zeitung Befragten sprachen sich für eine Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft nach britischem Vorbild aus. Die Möglichkeit, dass Großbritannien den Block im Juni verlässt, inspiriert sie. Sie hoffen, dass der 'Nexit' als Nächstes folgt.

Harry van Bommel, Parlamentsabgeordneter der Sozialistischen Partei in den Niederlanden, sagte gegenüber Express.co.uk: 'Wenn Großbritannien austritt, wird das anderen Ländern Mut machen. Auch in den Niederlanden beginnt nun eine Debatte über ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft. Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher - Griechenland finanzieren und versuchen, alle Länder in der Eurozone zu halten. Letztlich wird die Eurozone auseinanderbrechen.'

'Weil wir den Euro haben, sieht sich die niederländische Bevölkerung mit Haushaltskürzungen und steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Das übertragen die Bürger auf die EU, die dadurch immer unbeliebter wird. Die Menschen misstrauen Europa und manche hassen die EU sogar - das ist eine existenzielle Krise.'"


Der folgende Chart illustriert den allgemeinen, negativen Meinungstrend gegenüber der EU, der auch in anderen europäischen Staaten erkennbar ist.

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Trotz dieser Tendenzen berichtete Politico in der letzten Woche, dass die politische Führung Frankreichs im Falle des Brexits ernste Konsequenzen für das Vereinigte Königreich durchsetzen will. Paris glaubt, dass eine eindrückliche Warnung an andere potentielle Deserteure nötig ist, um ihnen klar zu machen, dass ein EU-Austritt mit großen Nachteilen verbunden wäre. Vielleicht will man damit auch die eigene Bevölkerung warnen.

Die EU ist nicht mit der Währungsunion der Eurozone gleichzusetzen, die ihre eigenen Probleme hat. Ich schätze, dass die EU den Brexit wahrscheinlich verkraften könnte, aber einen Frexit, Germexit oder Spexit würde sie nicht überleben. Eine solche Entwicklung würde Europa wieder in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückwerfen: Ein fragmentierter Kontinent, auf dem Meinungsverschiedenheiten auf sehr unangenehme Weise und manchmal gewaltsam ausgetragen werden.

Niemand will eine solche Entwicklung, aber außerhalb des EU-Hauptquartiers in Brüssel gibt es nur sehr wenige Europäer, die mit dem Status Quo zufrieden zu sein scheinen. Dieser Sommer könnte der Beginn einer zunehmenden Dezentralisierung sein. Jetzt kommt es auf die Wähler im Vereinigten Königreich an.

So wie der Rest der Welt nicht verstehen kann, was die USA sich dabei gedacht haben, als sie Donald Trump als republikanischen Präsidentschaftskandidaten nominierten, fragen sich viele von uns, die die Konsequenzen des Brexits zu kennen glauben, was die Briten sich dabei denken. Meinen sie das wirklich ernst?

Diese Diskussion hatte ich gestern mit Jim Bianco. Er wies darauf hin, dass es fast unmöglich ist, in Großbritannien den Fernseher anzuschalten, ohne Wirtschaftswissenschaftler und Führungskräfte der Labour Party oder der Conservative Party zu sehen, die der Bevölkerung - zusammen mit praktisch allen anderen außer Boris Johnson - erklären, warum der Brexit eine schlechte Idee ist.

Die Stimmung in Europa spiegelt das gleiche Phänomen wider, das wir in den Vereinigten Staaten mit Trump und Sanders beobachten. Es ist die zunehmende Unzufriedenheit mit dem Establishment, unabhängig davon, mit welcher Partei die Menschen sympathisieren.

Die Meinungsforscher zerbrechen sich in Großbritannien den Kopf darüber, wie sie den Ausgang des Referendums beeinflussen können. Die Umfrageergebnisse entsprechen nicht der üblichen Aufteilung in links und rechts orientierte Bevölkerungsgruppen, die von den politischen Modelle immer suggeriert werden.

Übrigens: Falls Großbritannien die EU verlassen sollte, steht zu erwarten, dass kurze Zeit später Forderungen nach einem Referendum in Schottland laut werden, damit die schottische Bevölkerung darüber entscheiden kann, ob sie das Vereinigte Königreich verlassen und als eigener Staat der EU beitreten will.

William Butler Yeats scheint den Nagel im Jahr 1919 auf den Kopf getroffen zu haben:

"Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen
Versteht der Falke seinen Falkner nicht;
Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr;
Und losgelassen nackte Anarchie,
Und losgelassen blutgetrübte Flut,
Das Spiel der Unschuld überall ertränkt;
Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten
Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.
Gewiß steht jetzt bevor die Offenbarung..."



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